Bern

«Sie ist die schönste, die wir je gesehen haben», sagte Goethe über Bern. Wir wissen ja, dass er, wie die meisten Literaten, gerne masslos übertreibt. Aber seit die Unesco die Berner Altstadt zum Welterbe erklärt hat, verfolgt uns der Verdacht, es sei unser Städtchen vielleicht doch nicht so übel.

Ja, wir haben, was man Sehenswürdigkeiten nennt. Mit dem Mundartrock haben wir auch Hörenswürdigkeiten. Und hinter jeder zweiten Seitengasse verbirgt sich ein Schauplatz der reichhaltigen Berner Literatur – oder ein Bundesrat, der, fern von Bodyguards, Freiluftpolitik betreibt.

Bern pflegt den Tanz und das Theater, wandelt alte Schulhäuser in Kulturstätten um, ist, bilingue verwurzelt, mit allen Sprachwassern gewaschen, zählt dank der Uni zu den Pionieren der Weltraumforschung und bildet mit Albert Einstein den Angelpunkt der allgemeinen Relativitätstheorie. Gefragt, wie relativ das Absolute sei, flüchten wir Berner aber gerne in eine Beiz, verpassen bei einem Kaffee, einem Moscht oder einem lokal gebrauten Bier ein Tram nach dem anderen und reden über Gottheiten, den Fussball und die Temperatur der Aare. Denn dieser Fluss, der die Hüften unserer Altstadt so charmant umschmiegt, ist unser kollektiver Herzschrittmacher.

Manche erkennen im Aareschwimmen gar Kommunistisches: Im zügig dahinziehenden Wasser, so der Gedanke, seien alle gleich, der Asylsuchende aus Syrien schwimme dort auf Augenhöhe mit dem Vorstandsvorsitzenden aus dem Kirchenfeld. Solche Gedanken beweisen: In Bern endet die Politik nicht am Haupteingang des Bundeshauses, sondern zieht als bunter Diskurs durch die Quartiere.

Wem es übrigens zu eng wird in der Stadt, zu kulturbeflissen oder zu intellektuell, der kann sich ringsum mit Kuhweiden, Wäldern, aussichtsreichen Bergen und rustikalen Dorfbeizen eindecken. Dort duftet es dann nicht nach Goethe, sondern nach Gotthelf.

Urs Mannhart
Schriftsteller